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Dominikus über zeitgenössischen Zirkus

Wenn wir doch so interdisziplinär zwischen Tanz, Theater, Artistik, Performance usw. unterwegs sind, wieso haben wir dann überhaupt noch diesen Namen “Zirkus”? Viele zeitgenössische Zirkusschaffende haben ein so starkes Streben nach Neuem und Freiheit, dass sie sich sogar vom Begriff Zirkus lösen. Sollten wir uns davon frei machen? Um es vorweg zu nehmen: Nein. Was ist Zirkus und wie unterscheidet er sich von anderen Kunstsparten? Zirkus kann zwar Sprache benutzen, hat aber eine andersartige Erzählweise entwickelt, die nicht textbasiert ist. Das Wissen wohnt im Körper. Ideale von Beweglichkeit und Kraft führen zu einer besonderen Körperbeherrschung und extraordinären Bewegungsmustern. Die Zirkustechnik wird so selbst zu einer Sprache und kann genutzt werden, um Stimmungen zu erzeugen, banale und tiefgründige Geschichten zu erzählen, gesellschaftliches Handeln zu reflektieren, politisch aktiv zu werden oder einfach nur für sich zu wirken. Zirkus inspiriert, bringt Menschen zum Staunen und lässt Raum, um auf unterschiedlichste Arten interpretiert zu werden. Stücke entstehen kollektiv und interdisziplinär und kreieren eine Realität, in der vieles durch Andersartigkeit, sichtbare Anstrengung, Grazie, Risiko, Illusion und Angst, eine stärkere Wirkung für das Publikum bekommt. Zirkus ist sehr transformativ, weil keines seiner Werke überdauert, ausgenommen, das in den Körpern wohnende Wissen und die Technik, welche über Generationen weiter- gegeben wird. Im Zirkus war es schon immer so, dass es aufgrund der Individualität eines Ensembles und der meist fehlenden textlichen Basis schwer möglich ist Stücke zu reproduzieren. Und eine selten vorkommende Stückreproduktion ist durch die vielen Zusammenstellungsmöglichkeiten an Disziplinen schnell trotzdem ein Unikat. Ein Zirkuskollektiv ist nicht nur flexibel und kooperativ im Schaffensprozess von der Probe zum fertigen Stück, sondern auch danach. Früher, beim Umherreisen mit Zelt, heute mehr von Theater zu Theater und immer muss sich der gegebenen Situation angepasst werden. Alle Beteiligten sind sowohl in ständigem Zusammenspiel als auch in starker Autonomie. Wer sich anschaut, was in der Zirkusschule gelehrt wird, könnte meinen, die Menschen dort sind Masochist*innen – sie müssen die Strapazen akzeptieren und das Leiden lieben lernen. Die persönliche Entfaltung steht im Vordergrund. Diversität kommt unter anderem dadurch zustande, dass es nicht nur Elemente auf dem Boden gibt, sondern zusätzlich auch noch an und mit verschiedenen Requisiten. In einem Zirkusensemble spielt die Andersartigkeit jeder Persönlichkeit eine große Rolle. In den Gesamtchoreographien wird sich zwar auch der Gruppe untergeordnet, dennoch sind alle Individuen über das gesamte Stück nicht nur eins von 20 synchronen, gleichartigen Puzzleteilen. Zirkus spielt mit Unerwartetem, Überraschung und Verblüffung. Wenn das Fallen gespielt wird, um zu schauen, wie geschafft werden könnte wieder aufzustehen, geht es im Zirkus zusätzlich um den Fall als Kunst und Fähigkeit. Das Spiel mit dem Risiko, ständig neue Grenzen austesten. Zirkus ist progressiv, frei und in ständiger Erneuerung. Wieso sollten wir uns nicht vom Begriff Zirkus lösen, um dann noch freier zu sein? Weil Zirkus das “anders sein” legitimiert und das wiederum Vielfalt in unserer Gesellschaft fördert. Im Zirkus „kannst du machen was du willst“. Unkonventionelle Individuen sind im Zirkus willkommen. Zirkus, als Begriff und als Kunstform inspiriert zu Diversität. Das ist wichtig, denn jeder Mensch sollte in seiner persönlichen Entfaltung gefördert werden. Zirkus schafft es, seit Jahrzehnten, Andersartigkeit in unserer Welt positiv hervorzuheben, die an anderen Stellen leider immer noch oft verpönt oder sogar unterdrückt wird. Wir können uns von Vorurteilen und von Tieren im Zirkus trennen, aber Traditionen brauchen einen Rahmen, um weitergetragen zu werden. Wir sollten uns also nicht vom Begriff Zirkus trennen, sondern ihn nutzen, um seine nachhaltigen Eigenschaften weiterzutragen. Die Körperlichkeit, die Diversität, der Fleiß, die Autonomie und das Zusammenspiel.



Julian über zeitgenössischen Zirkus

Der Duden sagt mir, dass Zirkus eine Arena für Wettkämpfe, Spiele oder Rennen ist. Das Wort Zirkus steht für mich im ständigen Wandel und hat sich im Laufe der Zeit einer breiten Entwicklung unterzogen. Zirkus ist für mich Kunst, Bewegung, Lernen, Träumen, Freiraum, Freiheit, spielen, ausprobieren, fallen, aufstehen,… Ein Raum in dem ich sein kann wie ich bin, und alles ausprobieren kann, was ich mir nur so vorstellen kann. Und auch ein Raum, in dem wahrscheinlich alles möglich ist. Ein Raum in dem ich mich wohl fühle, wo ich zuhause bin und gleichzeitig ständig an meine Grenzen stoße. Zirkus will gesehen werden. Zirkus begibt sich in Kommunikation, mit den Menschen, die begeistert zuschauen. Und auch mit denen, die mit verschränkten Armen auf ihrem Platz sitzen. Zirkus trifft jede*n, egal ob von Innen oder Außen. Zirkus hat für mich das wunderschöne Potential jede Menschengruppe abzuholen und Ihnen etwas zu bieten. Zirkus lässt dich staunen, träumen und hinterfragen. 
Dann kommt jetzt noch das Wort Zeitgenössisch in den Diskurs. Der Duden spuckt „gegenwärtig, heutig, derzeitig“ aus. Das trifft es für mich gut auf den Punkt. Man kann also sagen „Zirkus heute“. „Zirkus Jetzt“. Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, dass Zeitgenössischer Zirkus auch versucht das Morgen zu untersuchen. Was ich im Zeitgenössischen Zirkus beobachten kann, ist ein ständiges Streben nach Dekomposition. Bewegungen werden zerlegt, geschnitten und dann neu zusammen gebastelt. Das gleiche passiert mit dem Aufbau oder der Dramaturgie einer Zirkusvorstellung. Auch mit der Beziehung zwischen Publikum und Artist*innen. Diese wird neu experimentiert und gereizt. Eine provozierende und grenzenlose Kunstform. Alles scheint möglich. Zeitgenössische Zirkusartist*innen bewegen sich in aktuelle Kontexten und versuchen ihren Körper in extraordinärer Weise einzusetzen. Ein Bestreben, die Zuschauer außer Atem zu setzen und Grundsätzliches zu hinterfragen. 
Zeitgenössischer Zirkus hat für mich keine klare Form, kein klares Konzept. Es lebt von einer Freiheit und einer unglaublichen Flexibilität. Es passt sich jeglichen Umständen an und findet immer eigene Formen.
Es fällt mir schwer, hier eine Definition für diese vielseitige Kunstform zu formulieren. Einen künstlerischen Anspruch spüre ich. Eine Unendlichkeit an Möglichkeiten, durch die Vermischung von allen denkbaren Bühnen-Disziplinen, und dieser starke Bezug zum menschlichen Körper, faszinieren mich. Ich denke zeitgenössischer Zirkus muss erlebt werden, um einen Einblick zu bekommen, was es ist. 
Mit Raumfuerzirkus möchten wir diesem schönen zeitgenössischen Zirkus und unserer Leidenschaft Raum schaffen. Zum teilen, von uns für alle.